Andalusien – mi corazón!
El corazón – das Herz – ist eines der schönsten spanischen Wörter. Es weckt Emotionen. In der andalusischen Musik kommt es praktisch in jedem Lied vor. Vom dramatischen Flamenco zu der fröhlichen Sevillana und natürlich in der romantischen Volks- und Popmusik.
Verfasst von Arnold Niederberger, Imbach Wander- & Reiseleiter
Erschienen im WANDERMAGAZIN SCHWEIZ, Juli 2025
09. Juli 2025
Viel wurde geschrieben über Andalusien, vor allem über die berühmten Städte wie Granada oder Córdoba. Ich möchte Sie aber entführen in eine kleine Provinz, eine magische Region mit dem Namen Cádiz. Um ein besonders vielfältiges Spektrum an Landschaften und Kulturen zu erleben, unterteilen wir die Reise in zwei spannende Abschnitte: das malerische Hinterland und die faszinierende Küste. Das Dorf Grazalema ist ein Ort voller Geschichte und Tradition, eingebettet in eine beeindruckende Berglandschaft. Die Wälder sind geprägt von alten, knorrigen Stein- und Korkeichen. Zusätzlich wächst hier die seltene Pinsapo-Tanne, ein Relikt aus der Eiszeit, das nur in wenigen Regionen der Welt vorkommt. Wenn Spanier von der Sierra de Grazalema hören, verbinden sie damit nicht nur ein einzigartiges Kulturerbe oder atemberaubende Landschaften. Tatsächlich reisen die meisten Spanier nicht hierher, um die Wanderwege zu erkunden, sondern vielmehr, um sich mit köstlichen lokalen Spezialitäten einzudecken. Zum Beispiel mit dem Payoyo-Käse. Er wird aus Milch der einheimischen Payoyo-Ziegen und Grazalema-Schafen hergestellt.
Wenn wir entlang der steilen Felsflanken wandern und die majestätischen Gänsegeier praktisch auf gleicher Höhe an uns vorbeiziehen, wenn unter uns ein weisses Dorf in der Sonne leuchtet und wir dann später durch einen alten Bestand knorriger Bergeichen laufen und die schwarzen Schweine die Eicheln am Boden wie geröstete Nüsse schmatzend zerkauen, da bin ich hin- und hergerissen zwischen einem «Oh, die niedlichen Säuli» und dem Gedanken an einen «Mmh, sehr feinen Iberico-Schinken», der wie Butter auf der Zunge zergeht.
Die Küste des Lichts
Wir verabschieden uns von Grazalema und fahren über Berge und Hügel bis zum Atlantischen Ozean. Beim ersten Anblick der Küste werden wir geblendet, nicht nur vom hellen Licht, sondern auch von den Weiten der Strände und dem unendlichen Meer. Costa de la Luz heisst nicht umsonst die «Küste des Lichts». Wir erreichen Conil de la Frontera. Unser Hotel steht oben auf der Steilküste, verbunden mit einer Treppe zum Strand und Meer. Wir atmen die feuchte, salzige Meeresluft – welch ein Kontrast zur Bergluft von heute Morgen. Der Fischreichtum lockte schon die Phönizier und später die Römer an diese Küste. Die von den Römern produzierte und ziemlich streng riechende Fischsauce wurde als Delikatesse im ganzen römischen Reich gehandelt. Habe ich schon die Spanier erwähnt, die bei jeder Region gleich ans Essen denken? Egal – auf jeden Fall läuft jedem das Wasser im Munde zusammen, wenn ich Conil de la Frontera und die umliegenden Dörfer erwähne. Am liebsten essen die Einheimischen eine grosse Platte Frito Gaditano, das sind kleine frittierte Fische und Meeresfrüchte. Das gemeinsame Essen hat für die Spanier einen hohen Stellenwert als soziale Veranstaltung, und die Gespräche am Tisch sind von lebhaftem Austausch und regem Interesse geprägt. Den Gaditanos (die Menschen aus Cádiz) beim Gespräch zu folgen, ist aber nicht so einfach, nicht nur weil oft alle gleichzeitig reden. Nebst der unglaublichen Geschwindigkeit und dem Verschlucken aller Endungen gebrauchen sie auch viele lokale Wörter, vor allem Schimpfwörter. Als Nidwaldner verstehe ich das sehr gut. Auch wir sprechen einen starken Dialekt und verwenden viele urchige Wörter, sodass uns Auswärtige oft nur schwer verstehen können. Aber das mit der Geschwindigkeit – das ist wieder eine andere Sache.
«IN DER PROVINZ VON CÁDIZ FINDET MAN GANZ ANDALUSIEN IM KLEINFORMAT.
ALLES NAH BEIEINANDER UND NOCH NICHT SO BEKANNT.»
ARNOLD NIEDERBERGER, IMBACH-REISELEITER
Am Rande der Welt
Schon in der Antike war das etwas südlich von Conil gelegene Tarifa ein Symbol für die Grenzen des Be- kannten. Die Säulen des Herkules – das heutige Gibraltar und der Jebel Musa in Marokko – markierten für die alten Griechen die Schwelle zum Unbekannten, einen Punkt, an dem die Welt scheinbar endete. Ein Ort, an dem Geschichte, Legenden und Natur auf einzigartige Weise verschmelzen. Hier, wo sich Mittelmeer und Atlantik treffen, spürt man den Zauber eines Ortes, der einst als «das Ende der Welt» galt. Durch die Lage zwischen den zwei Meeren und zwischen Europa und Afrika entwickelt sich hier ein einzigartiges Mikroklima mit entsprechend interessanter Vegetation. Eine Wanderung führt uns auf die ersten Erhebungen zwischen dem Meer und den
Wäldern aus Korkeichen, immer mit Blick über die grossen Sanddünen und bis zur Strasse von Gibraltar nach Afrika. Der Sonnenuntergang an der Costa de la Luz ist magisch. Meine absolute Lieblingszeit kommt aber etwas später – die blaue Stunde. Es ist die Stunde nach dem Sonnenuntergang und vor der Dunkelheit. Ob es Götter oder Engel sind – oder wie meine Mutter früher zu uns Kindern sagte: «Wenn sich der Abendhimmel rot färbt, fängt das Christkind schon mit den Weihnachtsguezli an» –, die mit gewagten Pinselstrichen und einer Farbpalette zwischen Gelb und Dunkelrot fantastische Gemälde an den Himmel malen… und ich mit den Füssen am Meeressaum, im weichen Sand stehe… die Wellen rollen ohne Pause an den flachen breiten Strand. Ich frage mich: Woher kommen eigentlich die Wellen? Und wohin wollen sie? Oh Andalucía – mi corazón!