Immer dem Wasser nach
Einsam das felsige Gredetschtal, lieblich das grüne Obergoms, aussichtsreich die Landschaft bei Visperterminen. Diese Wanderreise zeigt die vielen Facetten des Suonenwanderns.
verfasst von Jochen Ihle, Wandermagazin SCHWEIZ (01.05.2024)
14. Juni 2024
Gredetsch. Schon allein der Name klingt wild und verwegen. Kühn sind auch die Suonen, die das Wasser des Mundbachs aus dem Gredetschtal leiten: Die Obersta und die Grossa nach Birgisch, die Stigwasser und die Wyssa nach Mund. Wanderleiter Marcel Käser motiviert uns zu einer interessanten Kombination: an der Obersta taleinwärts und entlang der Stigwasser talauswärts. Von Birgisch steigen wir über die Wiesen bergauf. Erster Höhepunkt ist eine 158 Meter lange und originalgetreu restaurierte Trockenmauer, an deren Ende wir die Obersta-Suone erreichen. Wie ihr Name verrät, ist sie die oberste Wasserleitung von Birgisch. Ihr genaues Baujahr ist nicht bekannt, jedoch, dass um 1932 ihre gefährlichsten Abschnitte «entschärft» und durch Tunnels ersetzt wurden. Mehrmals sind jedoch noch Spuren ihrer einstigen Linienführung zu sehen. So entpuppt sich der Weg am Wasser entlang als äusserst abwechslungsreich. Wir wandern über Gras und durch lichten Wald, schauen hinunter ins Rhonetal und erblicken in der Ferne das Matterhorn, und immer wieder zwingen uns dunkle Felsentunnels zum Köpfeeinziehen und Lampeneinschalten. Dann öffnet sich plötzlich wie durch Zauberhand das Gredetschtal. Die Natur zeigt sich hier von ihrer unberührten Seite. «Immer wieder kann man dort auch Steinböcke und andere Wildtiere beobachten», sagt Marcel. Wir queren über eine Brücke den Mundbach und lassen uns auf den runden Felsbuckeln zu einer Rast nieder.
Grandioses Gredetsch
Die Wanderung talauswärts ins Safrandorf Mund ist dann weniger anspruchsvoll, zeigt jedoch schöne Elemente der Suonenbaukunst, etwa wenn direkt am Weg das Stigwasser durch einen ausgehöhlten Baumstamm fliesst. Früher führten noch mehr Suonen Wasser aus dem Gredetschtal heraus, durch den Bau des modernen Wasserstollens wurden einige von ihnen stillgelegt. Doch dank dem Stollen und der in ihrem Charakter völlig unterschiedlichen Suonenwege erschliessen sich viele Wandermöglichkeiten – von gemütlich bis anspruchsvoll. Erwähnt sei vor allem die Wyssa, die sich locker in die Reihe der spektakulärsten Suonen des Wallis einreiht. Sie wird um 1462 das erste Mal urkundlich erwähnt. Ihre Erbauer mussten sie unter schwierigsten Bedingungen den Felsen abringen. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts flossen die Wasser durch etwa 200 Kännel an der blanken Felswand entlang. 1928/29 wurde die Wyssa saniert, ihr Verlauf teilweise in Tunnels verlegt; später erfolgte dann der Durchstich des Wasserstollens. Dieser ist für Wanderer begehbar und eine gute Wahl, wenn man eine Variante zum einfachen Weg entlang des Stigwassers sucht oder die ausgesetzte Wyssa umgehen möchte.
«DIE WALLISER SUONEN FASZINIEREN MICH. BEGLEITET VOM PLÄTSCHERN UND FLIESSEN DES WASSERS
ENTSTEHT BEIM WANDERN EINE GANZ BESONDERE STIMMUNG.»
MARCEL KÄSER, IMBACH-WANDERLEITER
Eine Suone auf Stelzen
Kontrast zum wilden Gredetschtal ist die liebliche Landschaft rund um Ernen im Obergoms. Das Dorf liegt etwas abseits und erhöht über dem linken Rhoneufer, war jedoch einst ein bedeutender Durchfahrtsort über die Pässe nach Italien. Noch heute sind aus dieser Zeit kulturhistorisch wertvolle Bauten zu sehen. Und niemand zeigt und erklärt diese so unterhaltsam wie Dorfführerin Johanna Stucky. «Wenn ihr geradeaus reingeht, kommt ihr direkt in die Folterkammer » – sagt’s und schliesst das Zendenrathaus auf. Im Obergeschoss war einst der Gerichtssaal, im Kellergeschoss lassen uns zwei ehemalige Kerkerzellen frösteln. Heute dient der kubische Massivbau als Museum und Archiv. Wir schlendern über den Dorfplatz, staunen über das bemalte Tellenhaus und stossen unterhalb der Pfarrkirche St. Georg auf die Suone Wuhr, die in einem Graben durch die Wiesen führt. Ihrem Lauf folgend erreichen wir schon nach kurzer Zeit die alte Mühle Bonacher. Sie ist eine sogenannte Stockmühle, ein Mühlentyp, bei dem das Wasserrad horizontal unter dem Gebäude liegt, im Gegensatz zum weit verbreiteten Typ des vertikalen Wasserrades neben der Mühle. Die Landschaft zeigt sich rund und hügelig, mit Obstbäumen und Strauchgruppen bewachsen. Über den Mooshubel, auf ihm stehen noch drei hohe Steinsäulen des ehemaligen Erner Galgens, erreichen wir den Ortseingang von Mühlebach, wo wir eine rekonstruierte Suone auf Stelzen bestaunen. Wie in der Ortsgeschichte nachzulesen ist, kam das Wässerwasser von Ernen früher aus vier von Mühlebach gespeisten Leitungen: Trusera, Dorfera, Kummera und Wuhr. Zur Bewässerung der Felder am Hangfuss des Mooshubels musste eine Geländemulde überwunden werden, dies tat man mittels auf Stützen stehenden Holzchänneln, durch die das Wasser den Wiesen zugeführt wurde. Nachdem die Chännel durch moderne Bewässerungssysteme abgelöst und nicht mehr benötigt wurden, zerfielen sie. Die Stiftung und der Verein Heimatmuseum und Kulturpflege in Ernen errichtete dieses Teilstück anhand alter Vorlagen – als stummes Zeugnis des einst täglichen Kampfes um das Wasser.
Ein kulturhistorischer Zeuge steht auch oberhalb von Visperterminen. Das «Hüoterhüsi» thront an spektakulärer Aussichtslage hoch über dem Rhonetal. Die einfache Hütte wurde jedoch nicht der schönen Aussicht wegen gebaut, sondern diente früher dem Wasserhüter, der für den Unterhalt der Leitungen verantwortlich war, als Unterkunft. Heute übernachtet in der Hütte kein Wasserhüter mehr, die Gemeinde Visperterminen hat das alte Hüoterhüsi aber wieder instand gesetzt. So darf man gerne die Türe öffnen und hineinschauen, wie das früher war: Ein Bett, eine Bank und ein Tisch sind das einzige Mobiliar; an der Decke eine Öllampe, an der Wand ein Kruzifix und einige Haken für Seil, Rucksack und Kleider. Wie vielerorts konnte sich auch der Hüter der Bodmeri-Suone auf ein Wasserrad mit Schlagwerk verlassen. Schon von weitem hören wir das Klopfen des Merkhammers. Der Suonenweg schlängelt sich romantisch durch die Bäume, wir spazieren am plätschernden Wasser entlang und erreichen die Waldkapelle. Von dort führt der Kapellenweg hinunter nach Visperterminen. Auch an vielen Suonen kommt man ja an Heiligenbildern, Wegkapellen oder Bildstöcken vorbei. So ist dieser Weg ganz passend – und ein schöner Abschluss dieser Wanderreise.
Hauptbild: © ValaisWallis Promotion - David Carlier
Bilder zum Bericht: © Jochen Ihle, Wandermagazin SCHWEIZ