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Kalabrien, ein Stück der Alpen

Das Aspromonte-Massiv in Kalabrien ist in mehrerer Hinsicht einzigartig. Die Schweizerin Sabine Ment bringt Gästen die Landschaft des Nationalparks als Wanderführerin näher. Sie selbst hat die schöne Region vor dreissig Jahren zu ihrer Wahlheimat gemacht.

Erschienen im «Reise-Special am Sonntag» vom 5. September 2021
Erfasst von Stefanie Schnelli

16. November 2021

Als Sabine Ment am Morgen vom 1. Januar 1991 die Augen öffnet, sieht sie ihre Zukunft. Es ist ein ruhiger, wolkenloser Morgen mit wunderbarem Licht. Ihr Blick wandert von den hohen Klippen über das Meer. Die Liparischen Inseln mit dem rauchenden Stromboli liegen vor ihr, Sizilien und der Ätna, der ebenfalls Rauch steigen lässt, zeichnen sich ab. «Die Schönheit hat mich ergriffen. Ich wusste sofort: Das ist der Ort, hier möchte ich leben.» Schon in jungen Jahren war für Sabine Ment klar, dass sie nicht in der Schweiz bleiben will. Nach der Schule studierte sie Betriebswirtschaft und Italienisch und absolvierte zwei Semester in Messina. Von dort aus reiste sie über Silvester aufs Festland zu Freunden – und fand ihren Platz: Capo Vaticano, ein auf einem Felsvorsprung gelegenes Kap in Kalabrien. Heute noch, 30 Jahre später, ist es ihr Zuhause. Sie hat sich eine Region erschlossen, die noch viel mehr zu bieten hat als wunderbare Strände und eindrückliche Klippen an der Küste. «Kalabrien ist fast nirgendwo flach. Über 40 Prozent der Fläche sind Berge, nochmals mehr als 40 Prozent Hügel.» Diese Landschaft, das nach wie vor eher unbekannte Landesinnere, bringt sie Besuchern zu Fuss näher. Ment ist Nationalparkführerin im Aspromonte-Nationalpark und als Reiseführerin für den Schweizer Wanderferien-Spezialisten Imbach tätig.

Karg und üppig

Kalabrien hat drei Nationalparks. Aspromonte ist der unbekannteste. Ein eindrückliches Bergmassiv, dessen höchster Gipfel, der Montalto, 1956 Meter in den Himmel ragt. Von ihm aus ziehen sternförmig Berggräte ins Land, dazwischen liegen Täler mit unzähligen Wasserläufen. «Aussergewöhnlich am Aspromonte ist unter anderem seine Vertikalität. Auf weniger als 40 Kilometern kommt man von null auf fast 2000 Meter über Meer. Das schafft verschiedene Klimazonen und sehr unterschiedliche Landschaftsformen. Die Vielfalt ist enorm», erzählt Ment. Sie beschreibt üppig grüne Buchenwälder in der Höhe, unzählige Wasserfälle, teilweise bis zu 90 Meter hoch, und die sogenannten Fiumare: breite Flussbetten, die im Sommer trocken liegen und mit ihrem hellen Geröll an eine Mondlandschaft erinnern. Wie silberne Bänder winden sie sich dem Meer entgegen. Diese Einzigartigkeit hat auch die Unesco erkannt. Im Juli hat sie die uralten Buchenwälder zum Welterbe erklärt, im April den Aspromonte-Nationalpark in ihr Netzwerk Globale Geoparks aufgenommen. Die Ehre gilt nicht nur der landschaftlichen Schönheit, sondern vor allem auch der nicht weniger interessanten Geschichte des Massivs. «Vor rund 70 Millionen Jahren haben sind am südwestlichen Rand der Alpen riesige Brocken der eurasischen Platte abgelöst und sind abgedriftet», erzählt Sabine Ment. «Aus einem ist das heutige Korsika und Sardinien entstanden, ein weiteres Stück ist im Meer weiter südwärts gewandert und schliesslich zwischen den Ausläufern des Apennins und Sizilien stecken geblieben.» Durch Verschiebungen von Erdplatten hat sich der Aspromonte angefangen zu heben und ist vor rund zwei Millionen Jahren aus dem Meer aufgetaucht. Bis heute wächst das Massiv langsam dem Himmel entgegen. «Ich wohne zwar in Süditalien, aber eigentlich immer noch in den Alpen», sagt Ment mit Augenzwinkern. Wer im Aspromonte wandert, einmal durch karge Landschaften, dann wieder Buchen-, Pinienund Weisstannenwälder streift, entdeckt aussergewöhnliche Felsformationen und den grössten Monolithen Europas.

Tafeln mit Fremden

Diese Natur vor ihrer Haustüre, ihre Wunder, Geschichten und Schönheiten berühren Sabine Ment auch nach all den Jahren in Kalabrien noch. Es sind aber auch die Menschen, die die Region für die Schweizerin so aussergewöhnlich machen. «Ihre Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft kennt fast keine Granzen.» Treffe man beim Wandern auf eine andere Gruppe, sei selbstverständlich, dass man sich auf einen kurzen Schwatz einlasse, nachfrage, ob alles in Ordnung sei, und wahrscheinlich sogar zusammen picknicke. «Das Essen und der Wein werden selbstverständlich geteilt, auch wenn man sich nicht kennt.» Unterwegs laden Hirten zum einfachen Kaffee ein und die Besitzer kleiner Lokale zaubern aus einfachen Tischen üppige Tafeln mit besten lokalen Zutaten. «Mit einem langweiligen Sandwich muss sich auf einer Wanderung in Kalabrien niemand begnügen», lacht Sabine Ment. Sie hat ihren Ort gefunden.

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