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Kretas Weisse Berge

Wo die wilden Griechen wohnen: Der alte Mann sieht die Touristen und denkt an die Ziegen. Sifis Athitakis sitzt im Leibchen mit Tarnfarbenmuster auf der schattigen Terrasse seines Hotels, das in einer kleinen Bucht im Südwesten Kretas liegt. Schwermütig schaut er auf das Libysche Meer, während die linke Hand mit einer schwarzen Perlenkette spielt. Als Mitte der siebziger Jahre die ersten badehungrigen Westeuropäer auf Kreta auftauchten, hat er an dem damals menschenleeren Ort eigenhändig mit dem Bau des Hotels angefangen. Jetzt sitzen die Touristinnen in Badelatschen und Wanderschuhen lachend an den Tischen und essen Joghurt und Honig.

Erfasst von Urs Hafner, Redaktor NZZ, Beilage vom 11. April 2018

24. Juli 2018

Viel Arbeit und Leiden

Fast alle seine Ziegen und Olivenbäume habe er damals verkauft, um ins Tourismusgeschäft einzusteigen, erzählt Sifis Athitakis in einem kretischen Dialekt, dan die Reiseleiterin Barbara Schnyder ins Deutsche übersetzt. Sein Vater sei erst Hirte, dann Strassenarbeiter gewesen, er selbst habe als Junge in den Bergen Ziegen gehütet, wochenlang nur von deren Milch und einem Laib Brot lebend, zwischen den Tieren schlafend. Manchmal seien sie im Winter in den ersten Schnee geraten. Die Schule habe er nur während dreier Jahre besucht, er könne kaum lesen.

Ja, das Hotel und der Strand seien schön, aber dahinter stecke viel Arbeit und Leiden, betont Sifis Athitakis. Am Anfang habe er die Getränke für die Touristen in einer Zisterne gekühlt, die er selbst gegraben habe, die erste Telefonleitung hätten sie illegal gelegt. Man habe ihn belächelt. Er habe zwölf Enkel und zwei Urenkel. Er habe immer schwer gearbeitet, nun dürfe er sich ausruhen. Nein, an den Sitten der Touristen habe er sich nie gestört. Und die Touristinnen hätten ihm sehr gut gefallen, schiebt er leise nach, mit plötzlich leuchtenden Augen. Dann hievt er sich vom Stuhl, greift nach der Tarnfarben-Mütze und dem Feldstecher, schultert das Jagdgewehr und geht spazieren, zu den Ziegen.

Wandern auf staubigem Stein

Die Kreter gelten als wilde Griechen und die Sfakioten, die im kargen Südwesten der Insel leben, als die wildesten unter den Kretern. In Sfakia erheben sich die hohen «weissen Berge» Kretas, die manchmal auch schwarz und rot sind. Unendlich weit verlaufen die steinigen und doch sanft geschwungenen Hügel, bis zum blauen Horizont, der Himmel oder Meer ist. Nichts ist zu hören ausser dem Geplauder der Schweizer Wandergruppe, die soeben den knapp 2500 Meter hohen Pachnes erklommen hat, und dem Gebimmel der Ziegenglocken. Wo auch immer man wandert, ob auf den Bergen, durch die Schluchten oder am Strand: Man geht auf staubigem Stein, tritt ab und an auf eine Patronenhülse – und sieht Ziegen. Sie scheinen sich von Luft zu ernähren.

Für die meisten Touristen ist Kreta eine Badeinsel, aber eigentlich ist Kreta ein Inselberg mit Meeranstoss, ausgeprägt in Sfakia. Sie seien keine Fischer, sie seien Bergleute, stellt Roussos Viglis in gebrochenem Englisch klar; wenn er ein Wort nicht weiss, dolmetscht die Wanderleiterin der Gruppe, die während einer Woche wandernd die Region erkundet. Das massige Mann fürht im Küstenort Agia Roumeli, am Augang der Samaria-Schlucht, die von fast jedem Kreta-Touristen besucht wird, mit einen Söhnen von Frühling bis Herbst ein Hotel; im Winter zieht er jeweils wie andere Sfakioten auch in den belebteren Norden der Insel. Daneben bietet der frühere Gemeindevorsteher Schlucht-Exkursionen an, züchtet Bienen und studiert die Geschichte der Insel. Er erzählt von König Minos, von Homer un von den deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg die Insel besetzten und Einheimische massakrierten. Bienenzüchter seien romantische Männer, sagt Roussos Viglis, während er den Besuchern Schnaps nachgiesst.

Und wie halten die Bergler und Berglerinnen es mit der Religion? Immer wieder stösst der Wanderer auf kleine Altäre am Weg. Für enmal lacht Roussos Viglis: Wenn die Sfakioten in der Kirche sässen, würden sie in Gedanken das Gewhr ölen. Sie glaubten nicht an das Christentum und auch nicht an Gott, sondern an den Geist ihrer Vorväter. Die Frauen seien auch wichtig. Die Mètter seien sowohl für die Familienehre als auch für die Vendetta zuständig, wenn es darum gehe, die Ehre wiederherzustellen, sagt Roussos Viglis. Sie hätten den Stand der Dinge im Kopf. Auch die Frauen seien gute Schützen. Seine Schwester habe bei einem Kampf mehrere Männer aufs Kreuz gelegt. Sie alle seien starke Menschen, im Lauf der Jahrhunderte unter Fremdherrschaften durch das Feuer gegangen. Entschieden bestellt er bei seinen Söhnen nochmals Schnaps und Dolmades.

Frauen kaum sichtbar

Auch Roussos Viglis hat einen melancholischen Blick, wie die meisten Sfakioten, ob alt oder jung. Im Restaurant bedienen sie die ausländischen Gäste promt, aber ohne jede Unterwürfigkeit. Sie grüssen nur mit dem Anflug eines Lächelns. Die Männer sind präsent: an der Reception, hinter der Theke. Sie fahren langsam in einem japanischen Pick-up in Tarnfarbe durch das Dorf, sitzen rauchend an einem Tisch und schauen in die Ferne. Wahrscheinlich denken sie an Ziegen und Bienen. Die Frauen sind kaum sichtbar; taucht eine auf, ist sie schon wieder verschwunden.

Roussos Viglis' Vater war Hirte. Er wuchs mitten in der Samaria-Schlucht auf, wo die Bienen das Klima mögen. Von der Siedlung, in der bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts etwa zehn Familien lebten, sind nur ein paar Mauerreste übrig geblieben, auf denen heute die Wandertouristen ihr Picknick verzehren und am Brunnen die Trinkflasche auffüllen. Von hier aus gelangten die Einheimischen auf gefährlichen Pfaden schnell auf die Hochebene, wo die Ziegen und Schafe weideten, und zum Meer, wenn ein Boot anlegte. Als zwischen den Familien Streit ausbrach und die Vendetta mit mehreren Toten eskalierte, zogen die Leute weg, und die Siedlung zerfiel.

Alle denken an Ziegen

Die Wandergruppe lässt das Dorf hinter sich und zieht schweigend weiter, der unbebauten Küste entlang. Die Sonne sticht vom Himmel. Man hört die Wellen sich am Strand brechen und Glocken bimmeln. Über den Köpfen kreisen mit weit ausgestreckten Schwingen die Bartgeier. Dann sitzen die stolzen Vögel auf hohen Felsen und schauen auf das Meer hinaus. Sie sehen Schiffe und denken an Ziegen.

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