Reiseblog

Öl, Honig und Wein

Die griechische Insel Kreta wirkt auf den ersten Blick karg, doch wer sich Zeit nimmt, sie zu durchwandern, entdeckt eine bunte Palette an landschaftlichen, kulturellen und gastronomischen Reizen.

Reisebericht von Lucie Paska fürs WANDERMAGAZIN SCHWEIZ (Ausgabe 1. Juli 2024)

05. Juli 2024

War das wohl das Haus von Andreas Siderius, dem urigen Partisanen mit seinen Pluderhosen, Reitstiefeln und dem Fransentuch um die Stirn? Haben seine Tochter Eleni und der junge deutsche Archäologe und Dissident Johann Martens vielleicht in diesem Kirchlein geheiratet, aus dem heute wie damals Weihrauchschwaden und orthodoxe Gesänge wabern? Wo heute Autos parkieren, standen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs vermutlich Esel im Schatten der Hausfassaden. 

Wer das Buch «Der kretische Gast» von Klaus Modick gelesen hat und durch die Gassen von Agia Galini schlendert, kann sich solcher Mutmassungen über die erfundenen Romanfiguren kaum erwehren. Immer wieder drängt sich die Geschichte in die Gegenwart. Die alten Schwarzweissfotos an den Wänden der bunt beleuchteten Tavernen helfen der Fantasie noch etwas nach. Der pittoreske, quirlige Hafen dient im Buch als Schauplatz der letzten tragischen Szene, und am Horizont erkennt man die Silhouetten der zwei unbewohnten Paximadia-Inseln, wo Johann in einer Höhle die Fotos versteckt, die die Kriegsverbrechen der deutschen Besatzer auf der Insel dokumentieren.

Durchwandert man die weissen Dörfer, die sich an die steilen, karstigen Bergflanken im Landesinnern klammern, sieht man vor dem inneren Auge die Erschiessungen von Popen und Bauern sowie brennende Häuser und Kirchen, nachdem sich die Landbevölkerung geweigert hatte, den Deutschen die Verstecke der Partisanen zu verraten. Der Kampf gegen die Besatzer wurde im schwer zugänglichen und auch heute noch recht unwegsamen Süden der Insel besonders verbissen geführt.

«SO DURCHSTREIFEN WIR HEUTE MIT LEICHTEM GEPÄCK UNBESCHWERT DIE MEDITERRANE LANDSCHAFT. WIRKLICH SORGENLOS GEHT DAS ALLERDINGS NUR MIT EINER ORTSKUNDIGEN WANDERLEITERIN, DENN ES GIBT HIER PRAKTISCH KEINE MARKIERTEN WANDERWEGE, DAFÜR ABER EIN WIRRWARR AN ÜBERWUCHERTEN SCHAFPFADEN, DIE INS NIRGENDWO FÜHREN.»

Weisse Felsen, weisse Kapellen
Wo einst Freiheitskämpfer in langen Märschen schwer mit Waffen und Munition beladen im Schutz der Nacht ihre Stellungen wechselten oder Nachrichten überbrachten, durchstreifen wir heute mit leichtem Gepäck unbeschwert die mediterrane Landschaft. Wirklich sorgenlos geht das allerdings nur mit einer ortskundigen Wanderleiterin, denn es gibt hier praktisch keine markierten Wanderwege, dafür aber ein Wirrwarr an überwucherten Schafpfaden, die ins Nirgendwo führen. Zwar trifft man gelegentlich Hirten oder Imker, die ihre Bienenstöcke der Thymianblüte folgend im Verlauf des Jahres in immer höhere Lagen zügeln, doch ohne Griechisch gestaltet sich ein Wegbeschrieb schwierig.
Als Orientierungspunkte können noch am ehesten die kleinen weissen Kapellen dienen, die so manche Bergkuppe zieren. Obwohl dort oben meistens weit und breit keine Menschenseele anzutreffen ist, brennen im Innern dieser orthodoxen Gotteshäuser Votivkerzen, in deren Geflacker goldverzierte Ikonen vor sich hin strahlen. Draussen in dem gleissenden Licht ziehen derweil majestätische Gänsegeier in der aufsteigenden warmen Luft ihre Kreise und werfen ihre riesigen Schatten auf die weissen Felsen und die silbernen Olivenbäume. Es riecht würzig-herb nach wildem Salbei und Thymian, warmen Piniennadeln und süssem Feigenholz. Weit unten brechen die Wellen des Meeres an den unzugänglichen Steilküsten oder schmiegen sich sanft in sandige Buchten. Schweift der Blick nordwärts, ruht dort das imposante, rosa schimmernde Ida-Gebirge mit seiner weissen Halskrause aus Wolken.

Reichtum wächst auf den Bäumen
Zwar wirkt das Land auf den ersten Blick karg und trocken, doch der Kalksteinrücken, der die Insel längs teilt und bis 2500 Meter über Meer reicht, dient als Wolkenfänger. Das Regenwasser versickert und tritt Jahrzehnte später und viele Hundert Meter tiefer als eiskalte Quelle wieder irgendwo an die Oberfläche. Das viele Wasser, das milde Klima und zahlreiche Treibhäuser schenken den Kretern zwei Gemüseernten im Jahr. Die Landwirtschaft ist neben dem Tourismus denn auch der einträglichste Wirtschaftszweig, insbesondere die Millionen von Olivenbäumen.
Sage und schreibe 40 Prozent des griechischen Olivenöls werden auf der 250 Kilometer langen, schmalen Insel produziert. Die vielen Kleinbauern sind in Kooperativen organisiert. Sie bringen die Ausbeute ihrer Ernte, die nach der Touristensaison beginnt und bis in den Winter andauert, in grossen Jutesäcken oder Plastikcontainern in hochmoderne Mühlen, wo die kleinen grünen Früchte mit einer Art Staubsauger von den vielen Blättern getrennt werden, in eine Waschanlage rieseln und dann zerquetscht und gepresst werden. Wenn man Glück hat und einen Buschauffeur mit Beziehungen, darf man auch als neugieriger Tourist einen Blick in die blitzblanken, professionellen Anlagen werfen. Dort gibt es neben der hektischen Arbeit auch immer wieder Zeit für einen griechischen Kaffee und ein geselliges Schwätzchen.

Kreta auf dem Teller
Der natürliche Reichtum Kretas, die zahlreichen geschützten Häfen und die strategisch günstige Lage auf halbem Weg zwischen Afrika, Europa und Asien haben der Insel auch zu kulturellem Reichtum verholfen: Sie ist die Wiege der ersten europäischen Hochkultur. Später wurde sie zu einem begehrten Streitapfel zwischen Grossmächten.

Geblieben sind von den bronzezeitlichen Minoern, die vor 5000 Jahren bereits eine Keilschrift kannten und Paläste mit fünf Stockwerken, gefliesten Böden, bunt bemalten Wänden und fliessendem Wasser bauten, einige imposante Fundamente in Knossos und Festos, bunte Tonscherben und viele offene Fragen. Die Venezianer vermachten den Kretern ihre Häfen, Festungen und Städte sowie den Löwen, der noch immer zahlreiche Gebäude und Brunnen ziert. Und an die Zeit der verhassten Osmanen erinnern die Moscheen und Badehäuser, die mittlerweile umgenutzt anderen Zwecken dienen. Die zahlreichen Monumente, die an die Helden- und Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg erinnern, gehören traurigerweise ebenfalls zum Bild. Erst die Fusion all dieser Zeugen vergangener Epochen verleiht dem Land jedoch sein unverwechselbares Cachet.

Ob die kulinarische Vielfalt ebenfalls auf dieses Vermächtnis zurückzuführen ist oder eher auf die heutzutage allgegenwärtige Globalisierung, lässt sich hingegen nicht mit Gewissheit sagen. Wir jedenfalls haben uns die hausgemachten Cannelloni mit Feta-Spinat-Füllung, die reichhaltigen Meze, die Fischspiesse und Lammeintöpfe sowie die Baklavas zum Dessert schmecken lassen; vom hervorragenden Wein ganz zu schweigen.

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