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Sagenwanderung im Naturpark Gantrisch

Entdecken Sie die geheimnisvollste Ecke des Landes und machen Sie einen Ausflug zum Naturpark Gantrisch, wo das Vreneli vom Guggisberg einen Liebestrank braute und es wenig Tourismus gibt.

Erschienen in der Sonntagszeitung am 23.04.22
Erfasst von Daniel j. Schütz

01. Juni 2022

Mitte April, zwei Wochen vor der Walpurgisnacht: In Guggisberg ob Schwarzenburg BE wird der berühmte Vreneli-Brunnen zwischen Gottes- und Gemeindehaus zum Schauplatz einer Begegnung, die der Zufall arrangiert hat und die alle Beteiligten in bleibender Erinnerung behalten werden.

Hier ein älteres Ehepaar aus Philadelphia auf Europareise: «Our roots», sagt der Mann und präzisiert, dass seine Vorfahren Beyeler heissen und aus Guggisberg stammen. Und da Andreas Sommer, der Sagenwanderer vom Gantrisch, 46 Jahre alt, Ziegenbart unterm Kinn, lang und hager, über dem grünen Wams ein silbernes Tuareg-Amulett, unter dem braunen Filzhut lange dunkle Haare. «Ihr habt gute Wurzeln», sagt er. «Das hier ist ein magischer Ort – ein Ort der Kraft!» Ob das wohl mit diesem Girl zu tun habe, mutmasst die Frau mit Blick auf die Holzfigur am Brunnen. Da erzählt Andreas Sommer in bärndütsch eingefärbtem Englisch die Geschichte vom «Vreneli abem Guggischberg».

Die traurige Geschichte soll sich in der Zeit der Bauernkriege zugetragen haben, vor vielen Hundert Jahren, als das Gebiet zwischen dem Reich der Burgunder und der schwäbischen Fürstenhäuser noch Üechtland hiess. Es geht um verschmähte Liebe und aphrodisierende Gewürze, um Krieg und um Tod. «Es gibt auch in anderen Schweizer Regionen Vreneli-Sagen», wird Andreas später sagen. «Aber keine endet so traurig wie die vom Guggisberg.» Kurze Pause, dann verrät er: «Ich habe mir vorgenommen, die Geschichte neu zu schreiben – so, dass der Hans-Joggeli zum Vreneli findet und beide noch lange und glücklich leben.»

Eines der bekanntesten Volkslieder

Die Sage vom Vreneli ist nur wenigen geläufig, auch weiss kaum einer, wie man das 1000-Seelen-Dorf Guggisberg erreicht. Ganz anders das Lied, dessen melancholische, von Moll-Tönen geprägte Melodie zu den ältesten und eingängigsten Schweizer Volksweisen zählt: Der Ohrwurm «S Vreneli abem Guggisbärg» hat eine ganze Reihe von zeitgenössischen Musikschaffenden – von Stephan Eicher über Christine Lauterburg bis zu Steff la Cheffe – zu eigenen Interpretationen inspiriert.

Auf über tausend Metern Höhe, im bernisch-freiburgischen Naturpark Gantrisch, liegt der Dorfkern mit der Kirche, dem Gasthof Sternen, dem Vreneli-Museum, der Gemeindeverwaltung sowie ein paar behäbigen Bauernhäusern am Fuss des Guggershorn. Der markante Nagelfluh-Berg präsentiert sich von jeder Seite mit einem anderen Profil. Sagenwanderer Sommer verlässt das Dorf und lenkt seine Schritte der untergehenden Sonne entgegen. «Aus südlicher oder nördlicher Richtung kannst du es am besten sehen», sagt er und zeigt auf die Umrisse des Berges, an dessen Flanke sich eine weitere Erhebung anschliesst. «Das Guggershorn und daneben der Schwendelberg, sie sind wie Zwillinge – und wenn du gut hinschaust ...» Was dann? «Stell dir das Horn als Kopf einer Frau vor.» Es braucht jetzt nicht mehr viel Einbildungskraft, um im Schwendelberg eine weibliche Brust, daneben deren gesegneten Leib auszumachen. Da liegt eine schwangere Frau in der voralpinen Landschaft, hier wird die Topografie zum sichtbaren Sinnbild der Fruchtbarkeit.

In den Geschichtsbüchern mag das Herz der Urschweiz Rütli heissen, die Seele des Landes allerdings ruht für den Mystiker Andreas Sommer hier, in den Hügeln und Tälern rund um das Gantrisch-Gebirge – eine weitgehend vergessene, von der Tourismus-Industrie vernachlässigte, für naturbegeisterte Esoteriker verwunschene Ecke der Schweiz. «Es liegt viel Wahrheit in den Erzählungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden», sinniert Andreas Sommer. «Und der Gantrisch ist von allen Bergen der geheimnisvollste.»

Stammt Helvetia vom Gantrisch?

In einer Höhle, tief drin im Berg, habe einst die sagenhafte Helva gehaust, eine feenhafte, für manche gar göttliche Frauenfigur, die die Kräfte der Natur zum Segen der Menschen einsetzen konnte – zuweilen aber auch als Fluch. Aus der mythologischen Helva, so geht die Sage, sei die Landesmutter geworden, die Helvetia.

Am Ende der zweiten und in der dritten Strophe des Vreneli-Lieds ist die Rede von «zwoi junge Boim. /Dr eini treit Muschgaate / Dr andri Nägeli / Muschgaate die si süess /U Nägeli si räss / I gib’s mim Lieb z’versueche / Das ä mi nie vergäss.»

Ganz offensichtlich hat sich das verliebte Bauernkind nicht auf weibliche Reize allein verlassen wollen. Vreneli hat, um den Hans-Joggeli zu bezirzen, auch die natürliche Wirkung von Muskatnuss und Gewürznelken eingesetzt.

«Sie war eine feinfühlige, sinnliche Frau», mutmasst Andreas Sommer. «Eine von denen, die sich dem Einfluss der Kleriker widersetzten – und von diesen als Hexen verteufelt wurden.»

Die werden, wenn in der Nacht vom 30. April Walpurgis gefeiert und die fruchtbare Sommerzeit begrüsst wird, auf ihren Besen angeflogen kommen und auf den mystischen Bergen dieser Welt ihre frivolen Tänze aufführen. Sagt man. Auf dem Gantrisch allerdings sind derlei Aktivitäten bislang noch nicht beobachtet worden, und auch nicht auf dem Guggershorn.

Andreas Sommer wird in dieser Nacht in einer offenen Höhle im Gantrischgebiet ein Feuer entfachen und alle 14 Strophen singen. Zusammen mit Nathalie, die seine Frau ist und die Mutter von drei Töchtern.

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