Eintauchen im Wald

Kaum fünf Minuten vom Bahnhof Sihlwald – Ausgangspunkt und Ende unserer Wanderung – führt eine Holzpasserelle über die Autostrasse mitten ins Grün. Der Wald empfängt uns mit Wohlwollen: Angenehme Kühle schlägt uns entgegen, der starke Geruch des Bärlauchs kitzelt in der Nase, Vögel scheinen sich zu einem Extrakonzert versammelt zu haben. Wir schweigen, saugen die Eindrücke in uns auf und freuen uns auf die vier Stunden, die vor uns liegen. Diana Soldo und Andreas Sommer sind unsere Wanderexperten im Sihlwald. Sie werden uns in die Geheimnisse des Waldes einweihen, ihr Wissen vermitteln, auf die komplexen und vielfältigen Zusammenhänge in der Natur weisen, die Lust auf mehr Wald im Alltag in uns wecken.

Keine Baumfällungen

Der Sihlwald liegt vor den Toren Zürichs und ist für rund zwei Millionen Menschen gut erreichbar. Ursprünglich als Geschenk der Habsburger, kam er 1524 durch Auflösung des Fraumünster-Klosters in den Besitz der Stadt Zürich. Lange wurde er zur Gewinnung von Brenn- und Bauholz genutzt, ab 1876 kam sogar eine Waldeisenbahn zur Erleichterung der Forstarbeit zum Einsatz. Die Umkehr Richtung Naturwald begann 1986 mit dem Projekt «Naturlandschaft Sihlwald». Seit 2000 werden keine Bäume mehr gefällt, der Weg ist frei für die Entstehung eines urwaldähnlichen Buchenwaldes, wie er einst den Grossteil Europas bedeckte. Die Natur ist sich selber überlassen – und macht es recht gut. Noch ein paar Jahrzehnte und Farne und Sträucher werden hier in diesem schönen Laubmischwald, der zu 39 Prozent aus Rotbuchen besteht, ein wunderbares Dickicht bilden. Das Totholz dient jetzt schon als Lebensraum für Insekten. Der rund zwölf Quadratkilometer umfassende Sihlwald erhielt 2010 vom Bund – als erstes Gebiet der Schweiz – das Label «Naturerlebnispark – Park von nationaler Bedeutung». Ein Jahr zuvor wurde eine Kernzone von rund vier Quadratkilometer festgelegt, die niemand betreten darf, um Fauna und Flora zu schützen.

Grosse Ehrfurcht

Diana Soldo, die Biologin und Umweltwissenschaftlerin ist, bietet seit 2016 hauptberuflich Waldexkursionen an. «Ich möchte den Menschen den Wald näherbringen, denn ich bin der Überzeugung, dass unsere Auffassung der Natur und unsere Beziehung zu ihr über unsere Zukunft entscheiden werden.» Sie spricht bedacht und überzeugend. Wenn sie ein Blatt anfasst und über die Wahrnehmung der Bäume erzählt – und wie sie Informationen über die Wurzeln oder über die Luft in Form von Düften weitergeben können –, da hängen alle an ihren Lippen. «Leben heisst interagieren, kommunizieren. Je mehr ich über Bäume erfahre, umso grösser wird meine Ehrfurcht.» Verwundert erfahren wir, dass der Pilz eigentlich gar keine Pflanze, sondern ein eigenständiges Reich ist und der Hallimasch vermutlich das grösste Lebewesen der Welt. Diana Soldo lebt umgeben vom Wald. «Die Geschmäcker des Waldes sind verloren gegangen.» Früher habe man fast alles aus dem Wald gegessen, 90 Prozent der Pflanzen seien nämlich essbar. «Wildkräuter schmecken besser und sind gesünder als Gemüse.»

Mythen und Sagen

Andreas Sommer ist Sagenwanderer. Zu seinem Repertoire gehören heimische Märchen, Mythen und Sagen. Er ist gekleidet wie ein Wanderer aus einer anderen Zeit, ein Wesen aus dem tiefsten Wald. Sein «chüschtiges Bärndütsch», wie er selber zu sagen pflegt, ist klangvoll und würzig, passend, um die Magie des gesprochenen Wortes zu zelebrieren, mystische Geschichten aus dem Wald zu erzählen und über merkwürdige junge Frauen und grüne Waldmännchen zu berichten. «An den Lagerfeuern der Tuareg-Nomaden packte mich die Kunst des Geschichten-Erzählens. Diese Tradition belebe ich hierzulande neu.»

Die Kombination aus Wissenschaft und Sagenwelten ist erfrischend, hat Suchtpotenzial. Glücklich und mit einem Lächeln im Gesicht treten wir aus dem Sihlwald.