Wer es einsam mag, ausladende, unzersiedelte Landschaften liebt und Pferde, der ist in Kirgistan richtig. Zwar drängt die Zukunft in Form von Ferienresorts und Schnellstrassen mit grossen Schritten ins Land, doch findet man daneben immer noch viel Authentisches: die berittenen Hirten mit ihren Herden, die heimeligen Jurten, die fermentierte Stutenmilch.
verfasst von Lucie Paska, Journalistin | Bilder: Sarka Paska
18. November 2025
Schon in der Fleischabteilung des grossen Osh-Bazaars in der Hauptstadt Bischkek wird offensichtlich: Die Kirgisen sind Pferdefleischesser. Um die zahllosen Theken mit den dunkelroten Muskelbergen herrscht ein dichtes Gewusel, während in der Rindfleischabteilung die Verkäufer mit dem Kopf auf den Armen schlafen und sich das Geflügel und Schweinefleisch verschämt die hinterste Ecke in der grossen, überkuppelten Halle teilten.
Die Kirgisen sind Muslime - Schweinefleisch kaufen hier nur die Russen, von denen es seit der Sowjetzeit noch eine grosse Minderheit gibt. Auch die kyrillische Schrift ist geblieben, obwohl Kirgisisch eine mit Türkisch verwandte Sprache ist. «Wir versuchen mit unseren grossen Nachbarn gut auszukommen», sagt unser Guide Mirlan diplomatisch. «Mit Russland ist es etwas heikel, aber China tut sich hier als grosser Baumeister hervor», meint er anerkennend, als wir auf einer nigelnagelneuen Schnellstrasse aus der Hauptstadt brausen.
Unser Ziel ist der Issyk-Köl-See, der nach dem Titicacasee in Peru zweitgrösste Bergsee der Erde. Auch hier haben die Chinesen ganze Arbeit geleistet: Auf der einen Seite des neuen schwarzen Teerbandes entlang dem See ist noch die alte Holperstrasse auszumachen, an der sich windschiefe Holzhäuschen mit verblichenen, geschnitzten Fensterrahmen aneinanderducken. Hinter ihnen ziehen sich Apfel-, Aprikosen- und Lavendelplantagen die Hügel hinauf. Von den kilometerlangen, eleganten Pappelalleen entlang der Strassen sind nur noch traurige Stümpfe übrig. Auf der Seeseite der neuen, schnurgeraden Fahrbahn schiessen gewaltige Ferienresorts aus dem Boden – und überall Baumaschinen mit chinesischen Schriftzeichen.
Ein Gefühl der Freiheit
Noch gibt es aber auch ruhige Strandabschnitte. An einem solchen lassen wir uns in das glasklare Wasser gleiten. Obwohl wir uns auf 1600 Metern befinden, ist das Wasser angenehm lau. Auf einem nahen Felsen hocken zwei Adler, die Augen mit Lederklappen bedeckt. Eben noch haben sie für Touristen ihre Jagdkünste vorgeführt. Jetzt warten sie auf ihre Meister, die sich vor der Heimfahrt noch ein Bad gönnen. Die Beizjagd ist eine Leidenschaft der Kirgisen, und die besten Falkner aus dem In- und Ausland messen sich an den alle zwei Jahre stattfindenden Nomadenweltspielen. Nach 15 Jahren Dienst werden die Vögel ausgewildert und können dann noch einmal so lange in Freiheit leben.
Eine Ahnung von dieser grenzenlosen Freiheit geben uns unsere Wanderungen in der spektakulären, von schneebedeckten 4000er-Gipfeln eingerahmten Vorgebirgslandschaft: Die Stecken führen scheinbar querfeldein über samtene, gelbbraune Hügel und durch grüne Täler. Hin und wieder treffen wir auf etwas wie einen Trampelpfad, einen berittenen Hirten mit Hunden, der seine Schafherde vor sich her treibt, oder einen improvisierten Blechverhau, an dem Solarpanele lehnen. Darum herum frei weidende Stuten mit ihren Fohlen.
Ohne ortskundige Begleitung könnte man in dem Meer aus Bergrücken leicht die Orientierung verlieren. Doch wir sind in guten Händen und können uns sorglos dem Auf und Ab der Landschaft hingeben, die Gedanken schweifen und das Herz hüpfen lassen. Unglaublich befreiend fühlt es sich an, keinem vorgegebenen Pfad folgen zu müssen, sondern die Füsse auf dem goldenen Stoppelteppich selbst wählen zu lassen – nur die Richtung sollte man etwa halten und den Blickkontakt.
Einblick ins Nomadenleben
Auf halbem Weg vom Kyzart-Pass zum Song-Köl-See übernachten wir in den Gästejurten von Oma, Opa und ihren zwei jungen Helferinnen samt Baby. Am nächsten Morgen sitzt Opa vor der Küche und beobachtet durch das Fernglas die Jurten und Wohncontainer der Nachbarn an der gegenüberliegenden Bergflanke. Wir sind auf über 2000 Höhenmetern, Bäume hat es hier keine mehr. Im Talgrund grasen friedlich Yaks um den mäandernden Bach. Über der Küche wabert dicker Rauch, im Innern hört man ein regelmässiges, scheuerndes Geräusch.
Oma hat die frisch – in einen ausgeräucherten Kübel - gemolkene Stutenmilch in ein hüfthohes Holzfass gegossen und verquirlt sie energisch mit der vergorenen, die vom Vortag noch im Fass war. Dafür benutzt sie einen hölzernen Riesenquirl genannt Bischkek, woher der Name der Hauptstadt stammt. Mit einem Seil lässt sie den Quirl geräuschvoll und rhythmisch hin und her wirbeln.
Viele Hirten haben den Tourismus als zusätzliche Einnahmequelle entdeckt und stellen neben ihrer eigenen Jurte noch ein paar Gästejurten auf. Weil sie es gut meinen mit den Besuchern, stellen sie daneben einen Container mit Duschen und WCs oder bauen einfache Holzverschläge. Warmes Wasser liefert ein Schafmist-Boiler. Und sogar richtige Betten mit frisch bezogenen warmen Decken gibt’s unterdessen. Nur das Trinkwasser nehmen wir zur Sicherheit selber mit; das heisst: Unser umsichtiger Guide organisiert ein Packpferd samt jungem Reiter, die uns zwei Tage lang begleiten und die beiden 15-Liter-Kanister tragen.
Kühl, rauchig und leicht salzig
Nach ihrer morgendlichen Arbeitsroutine haben uns die drei Frauen in der Essjurte ein reichhaltiges Frühstück aufgetischt: warmen Porridge, Spiegeleier, gebackene Quarkhäppchen, drei Sorten Brot, Honig und selbstgemachte Johannisbeermarmelade. Damit soll ich den Tee süssen bedeutet mir Oma, die neben dem Samowar sitzt, und reicht mir eine dampfende Schale. Im Tee spiegelt sich das offene Jurtenauge über uns mit den vier Holzverstrebungen, die sich in der Mitte kreuzen – genau so, wie auf der kirgisischen Nationalfahne. Der Tee mit der Marmelade ist Balsam für den Hals.
Den stillen, wollenen Kokon einer Jurte zu verlassen, kostet Überwindung. Zum Abschied und zur Stärkung vor der vielstündigen Wanderung bis zum See bietet uns Opa, der immer noch vor der Küche auf seiner Bank sitzt, ein Glas Kymyz an, das Nationalgetränk. Kühl, rauchig und leicht salzig schmeckt die vergorene Stutenmilch, ein bisschen wie geräucherter Ayran, das säuerliche türkische Milchgetränk.
Je näher wir dem Song Köl kommen, desto zahlreicher werden die Pferde. Das Hochplateau mit dem See in der Mitte ist ideal für sie. Den ganzen Sommer über pendeln die Herden frei zwischen den zaunlosen Weiden und dem See, wohin sie zum Trinken kommen. Ende August heisst es dann runter ins Tal. Dann werden sie den samtenen Bergen wohl mindestens ebenso nachtrauern wie wir auf der Rückfahrt in die Urbanität Bischkek.